Panik im Tal der Blutegel

Die Knuckles Range ist ein recht abgelegenes Gebiet nordöstlich von Kandy im Hochland von Sri Lanka. Viele Touristen verirren sich hier nicht hin, so dass wandernde Europäer in dicken Stiefeln, atmungsaktiven Hosen und bewaffnet mit Wanderstöcken noch für neugierige Blicke bei den Einheimischen sorgen. Drei Tage wandern wir hier durch ein langes, sattgrünes Tal, das von hohen Bergen umschlossen ist. Etwa 3000 Menschen leben hier, erzählt Viraj, unser Reiseleiter. Ein Paradies aus Wald und Reisfeldern.

Spätestens am zweiten Abend hat sich das Paradies für einige der neun Wanderer aus Deutschland, Österreich und der Schweiz allerdings in einen Albtraum verwandelt. Werner*, ein neurotischer Schwabe in den Fünfzigern, zieht nun schon zum Abendessen bunte Stulpen über die Waden und bindet die hohen Wanderstiefel darüber fest zu. „Kein Bock mehr auf diese Scheißviecher“, brummt er wütend. Die Stulpen hat die Frau von Ravi genäht, einem Einheimischen, der uns die drei Tage in Flip Flops begleitet. Der clevere Singhalese verkauft sie für 1000 Rupien das Paar an die Wanderer. Der Baumwollstoff soll Füße und Waden der Touristen vor Blutegeln schützen, die zu Milliarden am Boden des Urwalds lauern. Spätestens am zweiten Tag tragen alle Teilnehmer den bunten Stoff, denn da hat die Angst vor den kleinen Saugern zum Teil hysterische Ausmaße angenommen.

Dschungel, Reisterrassen und Berge: die Knuckles Range ist ein grünes Paradies.

Gefährlich sind die Egel nicht, betont Viraj immer wieder. Moskitos, die allerlei Tropenkrankheiten übertragen können, seien viel schlimmer. Allein: es hilft nichts. Denn anders als beim Moskitostich blutet es sofort, wenn einer der kleinen Würmer erstmal seinen Saugnapf angesetzt hat und beginnt sich vollzusaugen. Viraj und Ravi haben sich deshalb mit Sprühflaschen aufmunitioniert, in denen verdünntes Desinfektionsmittel schwappt. „Das mögen die Blutegel gar nicht“, sagt Viraj. Und so besprühen die beiden wacker immer wieder die Wanderschuhe ihrer Schützlinge. Aber auch hier stellt sich schnell heraus: es hilft nichts.

Heike aus Österreich kreischt mittlerweile fast, sobald sie wieder einen Blutegel auf ihrem Schuh sieht. Als könne der sich durch das dicke Leder ihrer Wanderstiefel beißen. „Viraj, Viraj“, ruft sie. Der Reiseleiter eilt sofort mit seiner Sprühpistole herbei und verscheucht den Schädling. Weiter geht’s erstmal. Alle paar Meter werfen die Wanderer sorgenvolle Blicke auf ihre bunt umhüllten Waden und Knöchel. Und jeder Fund wird ausgiebig kommentiert. Werner kennt während der Wanderungen längst nur noch ein Thema: die Blutegel und ihre Hinterhältigkeit. Später stellt sich heraus, dass sich am ersten Tag ein Blutegel an seinen da noch unbestulpten Knöchel durchgewunden hat. Danach keiner mehr. Aber dieser eine und die blutverschmierten Knöchel der anderen Wanderer reichen aus, dass Werner fortan jedes Stück Wald meidet und darauf besteht, nur noch auf befestigen Wegen weiterzugehen. Er wirkt zunehmend hysterisch.

Petra, auch sie aus Österreich, ist der große Kontrast. Wie sie überhaupt in vielen Dingen anders tickt als ihre Mitmenschen. Sie nimmt den Befall von einem halben Dutzend schon stattlich vollgesogener Egel in ihren Wollsocken scheinbar leicht hin. Erstmal eine rauchen, bevor sie mit Viraj zu diskutieren anfängt, warum sie denn jetzt ihre Schuhe und Socken ausziehen soll. „So schliemm iist daas doch niiicht“, sagt sie in ihrem gedehnten Singsang. „Willst Du, dass daraus eine Infektion wird?“, entgegnet Viraj sichtlich genervt. Tatsächlich haben sich die Parasiten an ihren Knöcheln und Unterschenkeln so vollgesogen, dass Hose und Socken blutverschmiert sind. Petra tut betont gelassen, wohl wissend, dass ihr das in den nächsten Tagen noch die gewünschte Aufmerksamkeit einbringen wird.

Der Rest der Gruppe ist weniger aufgeregt. Richard, ein Himalaya-erfahrener Österreicher, ist zwar irgendwann auch genervt von den schwarzen Würmern, nimmt’s aber vergleichsweise stoisch hin. Kurt, ein echter Kerl von der Schweizer Alm, macht seine Witze und Milena, das Küken der Gruppe, lächelt und zeigt damit, von sie von der ganzen Aufregung hält.

Die Einheimischen grinsen am zweiten Tag, als die Kolonne der Stulpen-Menschen an ihnen vorbeistapft. Der Schutz sieht in seiner Farbenpracht natürlich auch albern aus, entpuppt sich aber als sehr wirksam. So konnten sich die meisten Teilnehmer wieder auf das konzentrieren, weswegen sie hergekommen sind: Schöne, bisweilen anstrengende Wanderungen inmitten einer Natur voller verschwenderischer Pracht und Begegnungen mit ausnehmend freundlichen Menschen. Es lohnt sich, hierher zu kommen. Blutegel hin oder her.

Anmerkung: Namen der Reisenden geändert

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