In seinem Buch „Der Tod im Reisfeld“ über drei Jahrzehnte Krieg in Südostasien macht der mittlerweile verstorbene Peter Scholl-Latour keinen Hehl aus seiner Liebe zu Saigon. Verliebt hat sich der Journalist in die Stadt Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre, als die französischen Kolonialherren der Millionenstadt noch ihren kulturellen Stempel aufdrückten. In seinem Buch, das ich gerade lese, bekennt Scholl-Latour seine Liebe zu den Vietnamesen wegen ihres Optimismus‘ und ihrer Schicksalsergebenheit, ihrer Leichtigkeit und ihrer Verbissenheit. Den Europäer faszinierten diese Gegensätze.
Ho-Chi-Minh-City, wie Saigon seit 1976 heißt, ist vielleicht heute mehr denn je eine Stadt der Gegensätze, Scholl-Latour und seine Weggefährten würden sie aber wohl kaum wiedererkennen. Saigon, wie die Einwohner ihre Stadt trotz der Umbenennung nach dem zweiten Vietnamkrieg weiterhin nennen, ist so wuselig, so quicklebendig und so hastig, wie ich bisher keine Stadt erlebt habe. „It’s completely madness“, sagte ein Norweger treffend, den ich auf einer Gruppentour zu den Kriegstunneln der Vietcong kennengelernt habe. Vor allem der Verkehr ist wirklich Wahnsinn.

Als Europäer hier zu Fuß unterwegs zu sein, erfordert ein gewisses Maß an der Schicksalsergebenheit, der Scholl-Latour so verfallen war. Denn man hat keine andere Wahl: Entweder man läuft über die Straße und hofft, dass jeder in denen zum Bienenschwarm formierten Motorrollern einen sieht, oder man bleibt schlicht auf seiner Seite. Denn ein dazwischen gibt es nicht. Hier wird nicht gebremst, hier wird höchstens umfahren. Ampeln gibt es nur an den wirklich großen Kreuzungen. Saigon hat offiziell rund sechs Millionen Einwohner, inoffiziell mindestens zehn, und davon fährt jeder Zweite Motorroller – und zwar stets so, wie es die jeweilige Situation erfordert beziehungsweise zulässt. Verkehrspolizisten gibt es praktisch nicht, auch wenn an jeder Straßenecke halboffiziell wirkende Männer sitzen, die sich aber um das Geschehen auf den Straßen und Bürgersteigen nicht kümmern. Als Fußgänger muss man dabei stets auf der Hut sein, denn wenn es sich an einer Kreuzung staut, weichen die Roller und Motorräder auch über den Bürgersteig aus, bisweilen in hoher Geschwindigkeit und mit allerlei Transportgut (Menschen und Güter jeder Art) beladen. Der asiatische Gleichmut schwappt hier schlagartig in die Rücksichtslosigkeit über.
Hat man sich einmal dran gewöhnt, gibt es in der Stadt unheimlich viel zu entdecken. Egal ob im District 1, wo es alles zwischen Straßenküchen und Fünf-Sterne-Hotel aus der Kolonialzeit gibt, oder in einem der Randbezirke der Innenstadt. Wie überall während meiner Reise, habe ich auch Saigon zu Fuß erkundet. In der Innenstadt, wo ich in einem tollen Hostel untergekommen bin, wechseln sich Garküchen, Coffeeshops und Unterkünfte jeder Art ab. Dazwischen sitzen Knäuel von Männern, die einer Partie Brettspiel zwischen zwei Kontrahenten beiwohnen. In der Freifläche an der alten Flaniermeile Le Loi treffen sich Englischklassen, um gemeinsam zu lernen, und suchen dazu auch das Gespräch mit Touristen. In der „Walking Street“ reihen sich Kneipen und Restaurants aneinander, vor denen man tagsüber echte und abends vermeintliche Massagen angeboten bekommt. Immer gilt hier: Das Leben findet draußen statt.
Die wendungsvolle Geschichte, die Peter Scholl-Latour in seinem Buch aus seiner Perspektive sehr treffend beschreibt, kann man hier an vielen Stellen besichtigen und auch ein bisschen spüren. Saigon ist heute, wie schon vor dem Sieg der Nord-Vietnamesen im insgesamt 30 Jahre währenden Dauerkonflikt, die lebendige und bisweilen frivole Metropole des Landes. Die Lust am Konsum ist bei den Einwohnern überall spürbar, ich habe selten so viele Menschen gesehen, die in jeder freien Sekunde auf ihr Handy starren – auch das Manövrieren eines Motorrades durch den immer währenden Strom hält sie nicht davon ab. Die (westlichen) Touristen zieht es entweder ins Backpacker- und Amüsierviertel rund um die Straße Tran Hung Dao oder – bei üppiger ausgestatterem Geldbeutel – in die vergleichsweise gepflegte Gegend rund um die Kirche Notre Dame. Ein Halbtagesausflug zu den Vietcong-Tunneln bei Cu Chi, die zu einem Museum umgebaut wurden, ist auch problemlos mach-, weil überall buchbar.
Beides ist sehens- und erkundenswert. Durch Scholl-Latours Buch ein bisschen angefixt, habe ich mir auch die legendären Rooftop-Bars einiger alteingesessener und mittlerweile wiedereröffneter Hotels angesehen. In der Bar des Majestic, des Intercontinental oder des Caravelle haben sich vor und während der Konflikte zwischen dem kommunistischen Norden auf der einen und dem westlichen Süden mit Franzosen und Amerikanern an ihrer Seite Diplomaten, Militärs, Journalisten und laut Scholl-Latour immer auch Spione und Freudenmädchen getroffen. Großen Glanz versprühen diese Bars allerdings nicht, wenn man andere kennt, aber die Aussicht kann sich wirklich sehen lassen.
Saigon ist heute – wie damals sicher auch – eine Stadt der Gegensätze. Ob sie dem Traditionalisten Scholl-Latour heute noch gefallen würde, sei einmal dahingestellt.














https://m.youtube.com/watch?v=il3IbtDqgqI
Der Straßenfrisör sah spannend aus. Aber wie fönt der ne anständige Tolle ?